Was sind soziale Normen?

Soziale Normen sind konkrete Handlungsanweisungen, die das menschliche Sozialverhalten betreffen. Sie definieren mögliche Handlungsalternativen in sozialen Situationen. Soziale Normen sind gesellschaftlich und kulturell bedingt und können je nach Gesellschaft variieren.

Soziale NormenMenschen sind soziale Wesen. Sie spielen und arbeiten in Gruppen, halten meist ein Leben lang Kontakt zu ihrer Familie, schaffen Freundschaften, Cliquen, Arbeitsgemeinschaften, definieren sich als Interessengruppen, bilden Staaten und Staatengemeinschaften. In den ersten Jahren sind sie vollständig auf die Unterstützung anderer angewiesen. Auch später sind andere Menschen nahezu ständig präsent. Und selbst wenn ein Mensch allein ist, sind andere Menschen präsent, etwa durch soziale Normen, die sie aufgestellt haben.

Gruppen, so die Sozialpsychologin Marylin Brewer, befriedigen zwei gegensätzliche, fundamentale Bedürfnisse: Jeder Mensch will auf der einen Seite etwas Besonderes sein, ein Individuum, aber auf der anderen Seite auch zu jemandem gehören, was bedeutet, dass er sich mit ähnlichen Menschen umgibt. Beide Bedürfnisse, so zeigt die Gruppenforschung, können am besten in relativ kleinen, übersichtlichen Gruppen befriedigt werden.

Welchen Einfluss haben Gruppen und soziale Normen?

Solomon E. Asch (vgl. 1955, Opinions and Social Pressure, in: Scientific American 193(5), S. 31-35) zeigte in einer berühmten Untersuchung, dass Gruppeneinfluss manchmal selbst in sehr eindeutigen Situationen wirkt. Versuchspersonen in Gruppen von je acht Leuten bekamen drei Linien gezeigt und sollten sagen, welche von diesen genauso lang ist wie eine vorgegebene Referenzlinie.

In der Untersuchung gab es nur eine wirkliche Versuchsperson, die relativ spät mit ihrer Schätzung drankam, alle anderen waren Schauspieler, die für das Experiment rekrutiert worden waren. Diese gaben nun der Reihe nach absichtlich eine falsche Einschätzung ab.

Es gab mehrere dieser Aufgaben, und es zeigte sich, dass Versuchsteilnehmer zu 74 Prozent mit dem Strom schwammen, also eine falsche Lösung angaben, wenn die Vorgänger einheitlich diese falsche Antwort gegeben hatten – obwohl die richtige Antwort völlig offensichtlich war und sie diese eigentlich kannten. Eine kurze Video-Dokumentation des Asch-Experiments kann man hier sehen.

Wurden Versuchspersonen allein zur Schätzung gebeten, machten sie insgesamt nur 5 Prozent Fehler. Man kann hier von einem regelrechten Gruppenzwang sprechen, der vor allem motivational begründet ist: Man will sich vor anderen nicht blamieren. Wurden in anderen Studien die Versuchsteilnehmer gebeten, ihr Urteil heimlich aufzuschreiben statt es den anderen mitzuteilen, dann gaben die Versuchsteilnehmer viel häufiger die richtige, nonkonforme Lösung an.

Gruppenzwang wirkt auch als Informationswert in unsicheren Situationen: So viele Leute können nicht irren, denkt man vielleicht, wenn man überlegt, welches Auto man kaufen sollte, und beobachtet, dass zum Beispiel viele einen VW fahren.

Unter bestimmten Bedingungen treten solche Konformitätseffekte jedoch nicht auf: Wer eine starke Überzeugung hat, die anderen für dumm hält oder ihnen die Expertise abspricht, ist weniger stark zu beeinflussen. Auch wenn es keine eindeutige Lösung gibt, wie bei der Beurteilung von Kunst, sieht man diese Konformitätseffekte seltener. Sie treten nur dann auf, wenn die Gruppenmeinung einmütig ist – zweifeln einige Mitglieder, bleibt man bei seiner Meinung.

Wie entstehen Gruppen und soziale Normen?

Gruppen entstehen häufig, indem sich Menschen mit gemeinsamen Werten und Überzeugungen zusammenschließen. In der Piratenpartei haben sich zum Beispiel freiwillig Menschen aus ganz Deutschland vereint, die den vorherrschenden Politikstil kritisieren und denen die Nutzung öffentlicher Ressourcen wie Internet und Nahverkehr am Herzen liegt.

Aus den Verhaltensregeln in Gruppen entstehen soziale Normen. Diese sind häufig explizit. Wir wissen, dass wir uns in Kirchen leise verhalten sollen und dass wir nicht jeden duzen können. Soziale Normen manifestieren sich auch in Gesetzen. Sie können so stark internalisiert sein, dass sie unbewusst wirken – dies erspart uns viele Entscheidungen. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass Menschen automatisch die Stimme senken, wenn sie das Wort Bibliothek lesen.

Henri Tajfel behauptete, dass Menschen nicht nur eine persönliche Identität haben (Ich bin ich), sondern auch eine Identität als Gruppenmitglied (Ich gehöre zu euch). Aus dieser Identität beziehen wir einen Großteil unseres Selbstwerts, und sie führt zu einer Bevorzugung sowie einer übertrieben positiven Bewertung der eigenen Gruppe. Wenn es unserer Gruppe gut geht, dann geht es auch uns selbst gut, und darum versuchen wir, unsere Gruppe aufzuwerten. „Wir sind Papst“ titelte die Bild-Zeitung nach der Papstwahl 2005 und zeigte damit, wie die Aufwertung der eigenen Gruppe – hier der Nation – das Selbstwertgefühl erhöhen kann – ohne dass die Leser dafür etwas getan haben müssen.

Was bewirkt die Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen?

Tajfel vermutete, dass wir erstens Menschen immer in Eigengruppen und Fremdgruppen einteilen, zweitens aus der Identifikation mit der Eigengruppe unseren Selbstwert beziehen und drittens dieser Selbstwert zum Teil aus dem Vergleich zwischen der (schlechteren) Außengruppe und der (besseren) Eigengruppe bezogen wird.

So beziehen Deutsche beispielsweise einen hohen Selbstwert aus der Tatsache, dass Deutschland im Jahr 2014 Fußballweltmeister wurde. Und wir halten uns – so Tajfel – dann für etwas Besonderes. Hat ein Mensch eine Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe vorgenommen, führt dies zur Voreingenommenheit, weil er von diesem Moment an weniger mit der Fremdgruppe zu tun haben will. Der Mensch kennt sie dann automatisch weniger, unterschätzt ihre individuellen Bedürfnisse und die Unterschiede zwischen den Gruppenmitgliedern.